Stell dir vor, du betrittst ein Geschäft, aber die Gänge sind zu eng, die Schilder unleserlich und das Personal wenig hilfsbereit. Eine frustrierende Erfahrung, nicht wahr? Für Millionen von Menschen ist dies jedoch die Realität im digitalen Raum, wenn Webshops und Online-Dienste nicht barrierefrei gestaltet sind.
Die Zeiten, in denen Barrierefreiheit nur als Schlagwort im E-Commerce galt, sind vorbei. Heute ist klar, dass sie weit mehr als nur eine technische Anforderung oder gesetzliche Pflicht ist. Sie stellt sicher, dass jede Nutzerin und jeder Nutzer eine gleichberechtigte und angenehme Einkaufserfahrung hat. Darüber hinaus verbessert sie die Benutzerfreundlichkeit für alle, erhöht die Reichweite von Unternehmen und trägt zur Suchmaschinenoptimierung (SEO) bei.
In diesem Leitfaden werfen wir einen detaillierten Blick auf die Barrierefreiheit im E-Commerce, von gesetzlichen Vorgaben über bewährte Praktiken bis hin zu den Vorteilen für Unternehmen und Kunden.
Inhalt
Was bedeutet Barrierefreiheit im E-Commerce?
Barrierefreiheit bedeutet, dass digitale Produkte und Dienstleistungen von allen Menschen genutzt werden können, unabhängig von ihren körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten. In der digitalen Welt umfasst dies verschiedene Aspekte, darunter:
- Perceivable (Wahrnehmbar): Inhalte müssen für alle Menschen erfassbar sein, sei es durch Text, Sprache oder alternative Darstellungen.
- Operable (Bedienbar): Webseiten und Shops müssen mit Tastatur, Maus und assistiven Technologien steuerbar sein.
- Understandable (Verständlich): Inhalte und Funktionen müssen leicht verständlich und nutzbar sein.
- Robust (Robustheit): Inhalte sollten mit verschiedenen Technologien kompatibel sein, einschliesslich Screenreadern und neuen Assistenzsystemen.
Diese vier Prinzipien sind in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) des W3C (World Wide Web Consortium) festgelegt. Unternehmen, die diese Richtlinien umsetzen, profitieren nicht nur von einer breiteren Nutzerbasis, sondern vermeiden auch rechtliche Risiken.
Gesetzliche Rahmenbedingungen
Der European Accessibility Act (EAA)
Der European Accessibility Act (EAA) verpflichtet Online-Shops, digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Ab dem 28. Juni 2025 gelten diese Vorschriften für alle Unternehmen, die in der EU Geschäfte machen, auch für Schweizer Unternehmen mit EU-Kundschaft. Kleine Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern oder einem Umsatz unter zwei Millionen Euro sind ausgenommen, werden jedoch zur freiwilligen Umsetzung ermutigt.
Wichtige Anforderungen des EAA an Online-Shops:
- Zugängliche Navigation und Bedienung (z. B. Tastatursteuerung, Sprachsteuerung)
- Texte mit hohem Kontrast und skalierbarer Schriftgrösse
- Alternative Texte für Bilder und Videos
- Strukturierte Inhalte mit klaren Überschriften
- Barrierefreie Formulare und Bezahlprozesse
Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in der Schweiz
In der Schweiz gibt es bereits das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das barrierefreien Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen vorschreibt. Eine laufende Gesetzesreform soll diesen Schutz weiter ausbauen, u. a. mit verbesserten Anforderungen für private Online-Dienste.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Deutschland
Deutschland setzt den EAA mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) um. Ab 2025 müssen viele digitale Dienstleistungen, darunter auch Online-Shops, barrierefrei sein. Verstösse können zu Abmahnungen und Bussgeldern führen.
Praktische Umsetzung von Barrierefreiheit im Online-Shop
Eine barrierefreie Gestaltung von Webshops kann mit verschiedenen Massnahmen erreicht werden. Hier sind die wichtigsten:
- Tastatur-Navigation: Alle Funktionen sollten ohne Maus bedienbar sein.
- Hochkontrastfarben: Erhöhte Lesbarkeit für sehbeeinträchtigte Nutzer.
- Alt-Texte für Bilder: Erklärende Beschreibungen für Screenreader.
- Strukturierte Inhalte und Überschriften: Klar gegliederte Seiten für eine einfache Navigation.
- Barrierefreie Formulare: Klare Beschriftungen und Fehlerhinweise.
- Untertitel für Videos: Für hörgeschädigte Menschen.
- Flexible Schriftgrösse: Nutzer sollten die Grösse individuell anpassen können.
- Responsive Design: Optimierte Darstellung auf allen Geräten.
Vorteile der Barrierefreiheit für Online-Shops
Erschliessung neuer Kundengruppen
Laut WHO haben rund 15 % der Weltbevölkerung eine Form der Behinderung. Dies betrifft nicht nur Menschen mit dauerhaften Einschränkungen, sondern auch temporär Betroffene, etwa durch Verletzungen oder Krankheiten. Zudem profitieren ältere Menschen, die möglicherweise mit Seh- oder Motorikproblemen zu kämpfen haben, von barrierefreien Webshops. Durch eine zugängliche Gestaltung können Unternehmen diese Kundengruppen erschliessen und ihre Reichweite erheblich vergrössern.
Eine barrierefreie Website öffnet die Tür zu neuen Märkten und Kunden, die bisher aufgrund technischer Hürden ausgeschlossen waren. So können sich Unternehmen von der Konkurrenz abheben und sich als inklusiv und kundenfreundlich positionieren.
Verbessertes SEO und Conversion-Rates
Suchmaschinen wie Google bewerten barrierefreie Seiten besser, da sie strukturierte Inhalte und eine klare Navigation bevorzugen. Beispielsweise sorgt eine korrekte HTML-Semantik für eine bessere Indexierung, während Alt-Texte bei Bildern helfen, Inhalte verständlich zu machen. Diese Aspekte führen zu einer verbesserten Sichtbarkeit in den Suchergebnissen und somit zu mehr organischen Besuchern.
Zudem steigert Barrierefreiheit die Benutzerfreundlichkeit für alle Kunden, was sich direkt auf die Conversion-Rates auswirkt. Nutzerinnen und Nutzer verlassen Websites häufig, wenn sie schwer navigierbar oder schlecht lesbar sind. Durch eine optimierte Usability kann die Absprungrate gesenkt und die Kaufwahrscheinlichkeit erhöht werden.
Gesetzeskonformität und Risikominimierung
Unternehmen, die Barrierefreiheit umsetzen, minimieren rechtliche Risiken und schützen sich vor Abmahnungen und Klagen. In den USA wurde Domino’s Pizza verklagt, weil ihr Online-Bestellsystem für Blinde nicht nutzbar war – ein kostspieliges Problem, das mit frühzeitiger Umsetzung barrierefreier Massnahmen hätte vermieden werden können.
Auch in der EU werden mit dem European Accessibility Act (EAA) ab 2025 strengere Anforderungen an digitale Barrierefreiheit gestellt. Wer diese Vorgaben frühzeitig umsetzt, spart nicht nur mögliche Strafen, sondern zeigt auch proaktive Verantwortung gegenüber allen Kundinnen und Kunden.
Verbesserung der Markenreputation
Unternehmen, die auf Barrierefreiheit setzen, demonstrieren gesellschaftliche Verantwortung und stärken ihr Markenimage. Kundinnen und Kunden honorieren das Engagement für Inklusion und empfehlen solche Unternehmen eher weiter. Zudem kann eine barrierefreie Gestaltung zu positiven Presseberichten führen und die öffentliche Wahrnehmung verbessern.
Eine starke Reputation im Bereich Barrierefreiheit kann langfristig zu einer erhöhten Kundenbindung und einem positiven Unternehmensimage beitragen. Firmen, die frühzeitig auf Inklusion setzen, haben somit nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern leisten auch einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag.
Erfolgreiche Beispiele
Unternehmen wie Apple, Google, Microsoft, Amazon und Meta setzen verstärkt auf Barrierefreiheit. Beispielsweise verbessert Amazon die Nutzung seines Online-Shops für blinde Kunden durch Screenreader-optimierte Produktbeschreibungen und eine sprachbasierte Navigation mit Alexa. Google bietet inzwischen automatische Untertitel für Produktvideos in Online-Shops, sodass auch hörgeschädigte Nutzer problemlos Informationen erfassen können.
Shopify
Auch für Shopify gibt es barrierefreie Themes, die es Händlerinnen und Händlern ermöglichen, ihre Webshops für Menschen mit Einschränkungen zugänglich zu machen. Dazu gehört unter anderem eine klare Tastaturnavigation sowie eine optimierte Darstellung für Sehbehinderte durch anpassbare Kontraste und Schriftgrössen.
WooCommerce
Ein Beispiel für die Open Source E-Commerce Lösung WooCommerce ist das Astra Theme. Astra bietet verschiedene Funktionen, die die Navigation für Menschen mit Sehbehinderungen erleichtern. Dazu gehören unter anderem anpassbare Hervorhebungen für interaktive Elemente, die durch Tastatursteuerung navigierbar sind. Nutzer können über die Tabulatortaste durch den Shop navigieren, wobei Eingabefelder und Links visuell hervorgehoben werden. Diese Verbesserungen sorgen dafür, dass Screenreader-Nutzer einfacher durch die Inhalte geführt werden und ein besseres Einkaufserlebnis haben.
Fazit
Barrierefreiheit im E-Commerce ist kein optionales Feature mehr, sondern eine geschäftliche und ethische Notwendigkeit. Neben gesetzlichen Vorgaben bieten barrierefreie Webshops klare Vorteile: bessere Nutzererfahrung, erhöhte Reichweite und SEO-Vorteile. Unternehmen sollten sich frühzeitig mit der Umsetzung beschäftigen, um langfristig erfolgreich zu bleiben. Denn die Zukunft des E-Commerce ist barrierefrei!
Beitragsbild von Unsplash+
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